Die Pandemie ist nicht vorbei, aber ein großer Teil der Bevölkerung sehnt sich nach Normalität – und in vielen Teilen der Gesellschaft kehrt sie auch wieder zurück: Thüringen beendet die Kontaktbegrenzungen, Schleswig-Holstein ermöglicht Urlaube und andere Bundesländer öffnen in unterschiedlichem Ausmaß Kneipen, Theater, Sportvereine und Schulen. Wie das wissensbasiert und fair gelingen kann, haben Wissenschaftler*innen aus 24 Fachgesellschaften, die gemeinsam im Kompetenznetz Public Health zu COVID-19 arbeiten, zusammengefasst.
Im Frühjahr lag das öffentliche Leben brach: Die Eindämmung des neuartigen Coronavirus und der Schutz des Gesundheitssystems vor Überlastung waren das oberste Gebot. Die drastischen Maßnahmen hatten für die Bevölkerung erhebliche Konsequenzen, besonders für die Menschen, die ohnehin schon sozial benachteiligt sind. Nun gehen die Infektionszahlen zurück und die Bundesländer heben nach und nach die Beschränkungen wieder auf. Sie legen dabei ein unterschiedliches Tempo vor. Das stellt Deutschland vor neue Herausforderungen. Eine Vielfalt an unterschiedlichen regionalen Regeln birgt die Gefahr einer Verwirrung, aber auch einer sinkenden Akzeptanz für einzelne, sinnvolle Maßnahmen („in der Nachbarstadt darf man aber schon“). „Die Bürger auf diesem Weg mitzunehmen, die Erfolge der letzten Monate bei der Bekämpfung der Pandemie zu sichern und solidarisches Verhalten zu stärken – das sind die Anforderungen der Stunde“, fordert Prof. Dr. med. Eva Bitzer vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention und Mitglied des Kompetenznetz Public Health zu COVID-19.
Geteilte Verantwortung braucht klare Kommunikation
„Das Zusammenleben in der Pandemie funktioniert auch jetzt nur, wenn alle – von staatlichen Behörden über die Firmenleiterin und den Vermieter bis zu den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern – Verantwortung dafür übernehmen. Und zwar, indem sie ihren Teil dazu beitragen, die Mitmenschen vor Infektionen zu schützen“, ergänzt Prof. Dr. Ansgar Gerhardus, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Public Health und Mitglied der Koordinierungsgruppe im Kompetenznetz Public Health zu COVID-19.
Vor allem drei Dinge fordert das Kompetenznetz Public Health zu COVID-19 von den politisch Verantwortlichen, damit dies gelingen kann:
- ein gemeinsames, wissenschaftlich begründetes Vorgehen der Bundesländer zu COVID-19, bei dem die Maßnahmen zum Infektionsschutz immer wieder nachvollziehbar gegen deren Folgeschäden abgewogen werden;
- eine transparente Begründung von regional unterschiedlichen Vorgehensweisen, um dem Eindruck von Beliebigkeit entgegenzuwirken und die hohe Motivation der Bürgerinnen und Bürgern zu unterstützen und
- eine klare, wertschätzende und ermutigende Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern und einen klaren Appell an die gemeinsame Verantwortung.
Die größte Herausforderung: Soziale Ungleichheit
Auf einen drängenden Missstand macht das Kompetenznetz aufmerksam, für den es keine schnelle Lösung gibt: Viele Menschen leben oder arbeiten derzeit unter Bedingungen, die es ihnen unmöglich machen, sich und andere vor Infektionen zu schützen: Sie müssen auf engem Raum zusammenleben, oder sie müssen trotz Krankheit oder unzureichend geschützt arbeiten. Dies betrifft vor allem vulnerable Bevölkerungsgruppen. „Die Forderungen nach geteilter Verantwortung, Kommunikation und Kompetenzerwerb richten wenig aus, solange unsere Gesellschaft und die politisch Verantwortlichen solche Rahmenbedingungen akzeptieren und nicht grundsätzlich ändern“, fügt Corinna Schaefer an, Vorsitzende des Deutschen Netzwerk Gesundheitskompetenz und ebenfalls Mitglied im Kompetenznetz Public Health zu COVID-19.
Vor diesem Hintergrund haben 24 Fachgesellschaften aus dem Kompetenznetz Public Health zu COVID‐19 Empfehlungen an die politisch Verantwortlichen gerichtet.