Am 24. September 2021 fand der bereits 4. Leitlinien-Workshop der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft e.V. (DGP) online statt. Eingeladen und moderiert wurde dieser von den Vorsitzenden der Leitlinienkommission: Prof. Dr. Daniela Holle (Vorsitzende), Prof. Dr. Erika Sirsch (stellv. Vorsitzende) und Prof. Dr. Ralph Möhler (stellv. Vorsitzender).

Nach einer kurzen Vorstellungsrunde der insgesamt 18 Teilnehmer*innen, die sich aus Delegierten, LL-Koordinatoren*innen, Mitgliedern der Leitlinienkommission und Gästen zusammensetzten, stellte die Vorsitzende, Prof. Dr. Daniela Holle die Leitlinienarbeit des letzten Jahres vor. Aktuell gibt es 43 (aktive) Delegierte der DGP, die an unterschiedlichen Stellen an der Erstellung oder Aktualisierung von Leitlinien mitarbeiten. Insgesamt ist die DGP derzeit an 16 Leitlinien beteiligt, 25 Leitlinien konnten unter Beteiligung der DGP bereits erfolgreich abgeschlossen werden.

Im August 2020 konnte die erste von der DGP federführend initiierte S1 Leitlinie „Soziale Teilhabe und Lebensqualität in der stationären Altenhilfe unter den Bedingungen der COVID-19 Pandemie“ bei der AWMF veröffentlicht werden. Diese, als Living Guideline konzipierte Leitlinie, wurde von Prof. Dr. Margareta Halek und Prof. Dr. Daniela Holle, unter Einbindung von zehn weiteren Fachgesellschaften und Verbänden, koordiniert. Für dieses Jahr ist die Aktualisierung dieser Leitlinie, verbunden mit einer Anhebung auf ein S2e-Niveau geplant. Hierbei findet ein Wechsel der Koordination von Prof. Halek zu Prof. Martin Müller statt. Eine zweite Leitlinie unter Federführung der DGP – „Häusliche Versorgung, soziale Teilhabe und Lebensqualität bei Menschen mit Pflegebedarf im Kontext ambulanter Pflege unter den Bedingungen der COVID19-Pandemie“ – konnte im Dezember 2020, ebenfalls als Living-Guideline, veröffentlicht werden. Hierzu später noch mehr.

Am 10. März 2021 fand die konstituierende Sitzung der Leitlinienkommission statt. Diese besteht aus 11 persönlichen Mitgliedern aus ganz unterschiedlichen Handlungsfeldern und einem institutionellen Mitglied, dem Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP), da hier ein enger Austausch als wichtig erachtet wird. Die Aufgaben und Arbeitsfelder der Leitlinienkommission sind in einer Satzung und Geschäftsordnung beschrieben. Dazu gehören u.a. die Entscheidung, ob sich die DGP an einer Leitlinie beteiligt, die Auswahl der Delegierten, die interne Koordination und Begleitung einer Delegierten/eines Delegierten durch ein Mitglied der Leitlinienkommission und die Erstellung eines Votums zur Freigabe der Leitlinien durch den Vorstand der DGP. Auch die Planung / Durchführung von DGP geführten Leitlinien wird eng durch ein Mitglied der Leitlinienkommission begleitet. Bis zum Zeitpunkt der Gründung wurde die Leitlinienarbeit durch die beiden Leitlinienbeauftragten der DGP Prof. Dr. Erika Sirsch und Prof. Dr. Daniela Holle über Jahre alleine geleistet. Die Früchte dieser ehrenamtlichen Arbeit mündeten in der Mitgliedschaft der DGP in der AWMF im Jahr 2016. Seitdem hat die DGP eine Zunahme an Anfragen zur Beteiligung an Leitlinien anderer wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften zu verzeichnen. Diese eigentlich sehr beeindruckende Entwicklung konnte jedoch nicht länger durch die beiden Leitlinienbeauftragten alleine gestemmt werden und führte so zur Gründung der Leitlinienkommission innerhalb der DGP, nicht nur um die Arbeit auf mehr Schultern zu verteilen, sondern auch strukturell weiterzuentwickeln und zu professionalisieren. Aktuell plant die Leitlinienkommission ein Grundlagenbuch zum Thema „Leitlinienarbeit in der Pflege“ herauszugeben, dessen Fertigstellung für das nächste Jahr geplant ist. Zu den zukünftigen Herausforderungen gehört die Sicherstellung der Finanzierung und Administration von DGP geführten Leitlinien sowie die (Weiter)Entwicklung tragfähiger Strukturen der Leitlinienarbeit.

Moderiert von Prof. Dr. Ralph Möhler folgte nun eine Diskussion zur Leitlinienarbeit, in der die Delegierten von ihren aktuellen Aktivitäten berichteten. Hier wurde deutlich, dass die Einbindung der Delegierten in die jeweilige Leitlinie ganz unterschiedlich ausfallen kann. Das kann eine intensive Literaturrecherche bedeuten, deren Ergebnisse dann als pflegerischer Input in die Leitlinie einfließen. Das kann aber auch die Kommentierung einer bereits fertig gestellten Leitlinie bedeuten, so dass in dieser letzten Phase im Erstellungsprozess einer Leitlinie noch pflegerische Expertise eingebracht werden kann. Als frustran wird erlebt, wenn sich dieser Prozess über mehrere Jahre hinzieht, es wird teilweise von fünf bis sieben Jahren berichtet und für die Delegierten nicht immer klar ist, was gerade mit der Leitlinie, an der sie mitarbeiten, passiert. Hier gilt es nachzufragen und in Kommunikation mit den jeweiligen Koordinator*innen der federführenden Fachgesellschaft der Leitlinie zu treten, eine Aufgabe, die zukünftig auch durch die begleitenden internen Koordinator*innen der DGP geleistet werden kann. Es wurde auch berichtet, dass Leitlinien bei der AWMF ohne Beteiligung der Pflegewissenschaft angemeldet werden, wenngleich es sich um ein pflegerelevantes Thema handelt. Auch hier besteht die Möglichkeit, dass die DGP aktiv ihr Interesse bekundet und Kontakt zur anmeldenden Fachgesellschaft aufnimmt. Hier ist die Leitlinienkommission auf Hinweise und Zuarbeit der Delegierten angewiesen, da eine systematische Prüfung der Leitlinienanmeldungen bei der AWMF von der DGP nicht geleistet werden kann.

Weiter wurde die Frage nach der Rolle der Pflege im Konsensusprozess, in dem es um die Abstimmung der erarbeiteten Empfehlungen geht, gestellt und teilweise konträr diskutiert. Sollte z.B. eine Enthaltung präferiert werden, wenn es um die Abstimmung zu Empfehlungen bei Medikamenten geht, was inhaltlich bei den Medizinern liegt oder um Aufgaben, die von anderen Berufsgruppen wahrgenommen werden sollen? Eine Antwort fällt nicht ganz einheitlich aus, jedoch wird auch angemerkt, dass sehr wohl eine Abstimmung ja/nein möglich ist, wenn eine eindeutige Studienlage zu der jeweiligen Empfehlung vorliegt und somit auch eine darauf basierende Entscheidung durch die Pflege möglich ist. Wenn Delegierte sich hier unsicher sind, besteht jederzeit die Möglichkeit sich an die Leitlinienkommission zu wenden und gemeinsam nach einer Lösung im Einzelfall zu suchen.

Nachfolgend wurde durch Prof. Dr. Kirsten Kopke die Erstellung der S1 LL „Häusliche Versorgung, soziale Teilhabe und Lebensqualität bei Menschen mit Pflegebedarf im Kontext ambulanter Pflege unter den Bedingungen der COVID19-Pandemie“, die sie gemeinsam mit Prof. Dr. Thomas Fischer koordiniert hatte, vorgestellt. Die Leitlinie war zwar thematisch vergleichbar mit der Leitlinie in der stationären Altenhilfe, wollte aber explizit den Fokus auf die ambulante Pflege samt den Besonderheiten dieses Settings legen. Zu den erklärten Zielen der Leitlinie gehört es durch fachlich begründetes, möglichst wissenschaftlich abgesichertes Wissen allen professionellen Akteur*innen Handlungssicherheit in der ambulanten Pflege unter den Bedingungen der COVID-19 Pandemie zu geben, die Versorgung unter bestmöglichem Infektionsschutz sicherzustellen und einen Beitrag zur Aufrechterhaltung von sozialer Teilhabe und Lebensqualität zu leisten. Beteiligt waren insgesamt sechs Fachgesellschaften und Verbände. Insgesamt konnten 33 Empfehlungen erarbeitet werden, die sich auf den Infektionsschutz, die Unterstützung von Personen mit Pflegebedürftigkeit und deren Angehörigen sowie den interdisziplinären Austausch beziehen. Deutlich wurden im Setting der ambulanten Pflege aber auch strukturelle Begrenzungen wie die strukturelle Überforderung von pflegenden Angehörigen, der unzureichenden Berücksichtigung von Information, Anleitung und Beratung im Leistungskatalog der ambulanten Pflege, unzureichende strukturelle Berücksichtigung und Vergütung interdisziplinärer Zusammenarbeit und zu geringe Forschungsaktivitäten zu patient*innennahen Fragen der ambulanten Pflege. Es gilt grundlegende Lehren aus der Pandemie zu ziehen, so das Fazit von Prof. Dr. Kopke, relevante Vertreter*innen der Pflege(wissenschaft) müssen sich nachdrücklich zu Wort melden. Geplant ist die Überarbeitung der Leitlinie und Anhebung des LL Niveaus auf S2k. Hierzu soll die Repräsentativität der Leitliniengruppe um weitere Fachgesellschaften und Interessensvertretungen erhöht werden. Inhaltlich sollen auch Aspekte der Palliativversorgung berücksichtigt und die Zielgruppe um Kinder und Jugendliche erweitert werden.

Als letzten Punkt machte Prof. Dr. Erika Sirsch auf das geänderte Regelwerk der AWMF 2.0 aufmerksam, das grundlegend überarbeitet wurde. So wird zukünftig nicht mehr das Deutsches Leitlinien Bewertungsinstrument (DELBI) zur Bewertung von Leitlinien empfohlen, sondern AGREE II (Appraisal of Guidelines for Research & Evaluation II), das inzwischen auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Die Einbeziehung der Perspektive von Patient*innen/Betroffenen ist nun auch für S2e Leitlinien obligat, bislang war dies nur für S3- und S2k-Leitlinien erforderlich. Die Interessenerklärung kann jetzt online über die AWMF Webseite erfolgen und die Recherchehierarchie wurde überarbeitet. So ist z.B. die Suche nach bestehenden Leitlinien mit anschließender Leitliniensynopse jetzt fakultativ und nicht mehr wie bisher der erste Schritt im Rechercheprozess. Überarbeitet wurden weiter die Darlegung der Suche bei S2e- und S3-Leitlinien und die Literaturbewertung, die Ergebnisdarstellung der Evidenzbewertung, die Verbindung von Empfehlungen und Evidenz sowie die Graduierung und Begründung von Empfehlungen. Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit konnte dieser Punkt im Rahmen des Workshops nur kurz angerissen werden, jedoch sind alle Neuerungen des AWMF-Regelwerks auf der Homepage der AWMF nachlesbar. (https://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Leitlinien/AWMF-Regelwerk/202108_AWMF-Regelwerk2.0_Was_ist_neu_fin.pdf)

Insgesamt war der Workshop durch den regen Austausch sehr gelungen, so die einhellige Meinung aller Teilnehmer*innen und soll im nächsten Jahr wieder in Präsensform stattfinden.