Die Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft und deren Sektion „Pflege des kritisch kranken Menschen“ sehen im Zusammenhang mit der Leitlinie „Empfehlungen zur intensivmedizinischen Therapie von Patienten mit COVID-19“, die am 23.03.2020 auf der Homepage der AWMF unter der Registrierungsnummer 113-001 veröffentlicht wurde, die Notwendigkeit, die Aufgaben des fachweitergebildeten Intensivpflegepersonals bei der Versorgung der Menschen mit dieser Erkrankung stärker hervorzuheben.

Wir begrüßen den in der Einleitung der S1-Empfehlung formulierten Grundsatz der multidisziplinären Zusammenarbeit und empfehlen die Intensivtherapie als eine multiprofessionelle Herausforderung zu verstehen und auch so zu formulieren.

Die in der Leitlinie formulierte intensivmedizinische Therapie zur Behandlung von Patient*innen mit COVID-19 Erkrankung und das Aufrechterhalten von lebensnotwendigen Funktionen werden in interprofessioneller Zusammenarbeit von Ärzt*innen und Intensivpflegefachpersonal geleistet. Insbesondere werden mit der qualifizierenden Fachweiterbildung zur Intensivpflegefachperson Kompetenzen erlangt, die die Versorgung von Menschen mit Infektionen und Beatmungspflichtigkeit im interprofessionellen Setting sicherstellen.

Die intensivtherapeutische Versorgung bedarf unter der aktuellen Herausforderung der Ansteckungsgefahr und einer Ausbreitung der Infektion mit CoV-2 spezifischer Kenntnisse des interprofessionellen Teams. Es kann „nicht jeder alles machen“. Es geht darum, das Richtige richtig anzuwenden und bei einem Skill- und Grademix auf das jeweilig vorhandene Kompetenzprofil zurückzugreifen. Wir halten in diesem Zusammenhang eine Schulung der Maßnahmen u.a. zur Hygiene bzw. des notwendigen Selbst- und Fremdschutzes für unerlässlich. Pflegerische Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Intubation und Beatmung stehen, obliegen Pflegefachpersonen, die fachweitergebildet sind bzw. entsprechend geschult wurden und erfahren sind. Pflegefachpersonen mit Fachweiterbildung für Intensivpflege und Anästhesie leiten andere Pflegefachpersonen an und begleiten die Pflegefachpersonen, die nicht über diese Fachweiterbildung und die nötige Praxiserfahrung verfügen. Es ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht in Gänze vorhersehbar wie umfänglich spezifische Schulungen für Pflegende ohne Zusatzqualifikation werden, um sie in intensivpflegerische Versorgungsbereiche bei COVID-19 Erkrankten einzusetzen. In der S1-Leitlinie wird ausgeführt, „Der Gebrauch des Stethoskops zur Lagekontrolle des Tubus sollte zurückhaltend erfolgen“. Dieser Satz sollte durch den Hinweis auf einen hygienischen Umgang ersetzt werden, z.B.: Das Stethoskop verbleibt im Zimmer des /der Intensivpatienten*in und sollte im Falle von COVID-19 personenbezogen eingesetzt werden.

Die Leitlinie geht bei der Beatmungstherapie für COVID-19 Patient*innen mit ARDS auch auf die Bauchlagerung ein, die durch das interprofessionelle Team sichergestellt werden sollte. Neben der Sicherung des Atemweges, der suffizienten Beatmungstherapie und des Monitorings, werden spezielle Bewegungsabläufe zur Positionierung in die Bauchlage sowie Präventionsmaßnahmen gegen lagerungsbedingte Folgeschäden nötig. Anzumerken sei an dieser Stelle, dass sowohl Bewegungsabläufe unter besonderer Berücksichtigung von Sicherheitsaspekten und kinästhetischen Grundlagen als auch die spezifischen Techniken eines effektiven Lungensekret-Managements den Einsatz von geschulten Pflegefachpersonen bedürfen. Wir empfehlen daher, den pflegerischen Anteil an der Beatmungstherapie mit Bauchlagerung durch den Einsatz von Intensivpflegefachpersonen zu formulieren und den ergänzenden Einsatz jener Pflegefachpersonen zu formulieren, die über eine explizite Schulung und Praxiserfahrung verfügen.

In der S1- Empfehlung ist über Besuchsverbot zu lesen: „(…)Dabei ist die Zahl der Personen, die das Zimmer betreten, auf ein Minimum zu reduzieren (Besuchsverbot).“ Es muss die Frage gestellt werden, ob die Formulierung eines Besuchsverbot so generell und ohne weitere Erläuterung in der Leitlinie belassen werden darf. Wie sieht es mit Besuchen in einer absehbaren Sterbephase aus? In der Leitlinie zur palliativmedizinischen Versorgung steht der Hinweis, dass sterbende Intensivpatient*innen individuell, nach der jeweiligen aktuellen Versorgungssituation und unter Gewährleistung von Schutzmaßnahmen betrachtet werden sollen. Daher sollte keine generelle Aussage eines Besuchsverbots getroffen werden. Ebenso sollte die Frage des Besuchs für pädiatrische Intensivpatient*innen mit COVID-19 Erkrankung beantwortet werden.

Das Infektionsrisiko im Umgang mit Patient*innen, die von COVID-19 betroffen sind, ist hoch. Aber trotzdem bleibt das Bindungsbedürfnis ein menschliches Grundbedürfnis (wie die Atmung und andere Stoffwechselfunktionen auch), aus dem sich insbesondere in Fällen notwendiger Isolierung auch unter strenger Einhaltung der notwendigen Maßnahmen des Fremd- und Eigenschutzes ein physisches Dasein der Pflegefachpersonen pflegetheoretisch begründet. Folglich sollte eine Bezugspflege in Form einer mindestens 2:1-Pflege (bei schwierigen und hochkomplexen Patienten sogar 1:1) am Tag und einer mindestens 3:1-Pflege in der Nacht für die Versorgung dieses Patientenklientels in der Leitlinie festgeschrieben und nicht unterschritten werden1. Vor dem Hintergrund der beschriebenen physischen Anteilnahme der Pflegefachpersonen sowie ihrer persönlichen emotionalen Betroffenheit von einer möglichen dilemmatischen Verknappung verfügbarer Ressourcen, sollte der Begriff der interprofessionellen Zusammenarbeit auch in der Beantwortung ethischer Fragestellungen Anwendung finden.
Die in der S1-Empfehlung lesbare Überschrift: „Verfügbarkeit von Intensivbetten“, sollte inhaltlich geöffnet und durch die Überschrift: „Ethische Entscheidungen“ ersetzt werden. Wir empfehlen folgende Textpassage in die Leitlinienempfehlung mit aufzunehmen1 Aufgrund des dynamischen Verlaufs der Corona-Pandemie erscheinen Versorgungssituationen nicht unwahrscheinlich, in denen nicht mehr ausreichende intensivtherapeutische Ressourcen für alle Patienten zur Verfügung stehen. Wenn Ressourcen nicht ausreichen, sollten für Triage-Situationen die unausweichlichen Entscheidungsfindungsprozesse durch ein vorab definiertes Verfahren abgesichert werden. 2 Das Verfahren zum Finden einer Priorisierungsentscheidung sollte nach dem Mehraugen-Prinzip erfolgen, unter der Beteiligung von im Fall kundigen
– 2 intensivmedizinisch erfahrenen Ärzten
– 2 intensivpflegerisch erfahrenen Pflegefachpersonen
– ggf. relevanten weiteren Fachvertretern.

Die Kriterien für die Entscheidungsfindung bei nicht ausreichenden intensivtherapeutischen
Versorgungsressourcen sind gebunden an die Beantwortung der Fragen nach der vorliegenden
intensivmedizinischen Behandlungsnotwendigkeit, der jeweiligen klinischen Erfolgsaussicht, der
Einwilligung des Patienten in die Therapie und den Indikatoren des bisherigen Therapieverlaufs sowie
seiner Ressourcen. Die Entscheidungen sollten wohlüberlegt und möglichst im Konsens getroffen
werden. Sie gehören nachvollziehbar kommuniziert und dokumentiert.

 

Quellenverweis:
Deutscher Ethikrat (2020): Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise. Ad-hoc-Empfehlung. Online unter: https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-krise.pdf, (01.04.2020).
DIVI (2020): Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie. Klinisch-ethische Empfehlungen. Online unter:/https://www.aem-online.de/fileadmin/user_upload/COVID-19_Ethik_Empfehlung-v2.pdf, (01.04.2020).
Krankenhausplan NRW (2015): Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen.
https://broschueren.nordrheinwestfalendirekt.de/broschuerenservice/mags/krankenhausplan-nrw-2015/2664e“
[Abruf: 08.04.2020].
Maul, S. (2020): Handlungspraktische Dilemmata in Zeiten von Technisierung und Rationierung. Journal für Anästhesie und Intensivbehandlung, II.2020, Papst, Lengerich, 89-92.

1Wir nehmen bei den Formulierungen zu den ethischen Entscheidungen und der Personalausstattung Bezug auf die angegebenen Quellen.
2 Aus der Menschenwürde begründet sich eine egalitäre Basisgleichheit, auf der jedes menschliche Leben den gleichen Schutz genießt, unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft oder sozialem Status. Darauf aufbauend ist es erforderlich, medizinisch sowie ethisch gut begründete und für jeden Einzelfall gleich geltende Kriterien einer notwendigen Priorisierung bei der Verteilung von begrenzt verfügbaren Ressourcen anzuwenden.

 

 

Die Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft e.V. und deren Sektion „Pflege des kritisch kranken Menschen“ bringen ihre Expertise sehr gerne in die weitere Überarbeitung der Leitlinie ein.
Für Fragen steht zur Verfügung

Ass.-Prof. Dr. Irmela Gnass, Sprecherin der Sektion „Pflege des kritisch kranken Menschen“, Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft e. V., E-Mail: intensivpflege@dg-pflegewissenschaft.de

Kontakt:
Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft e.V.
Bürgerstr. 47
47057 Duisburg