Mit dem Beitrag „Suche Prestige, biete Pflege“, der am 20.09.2017 in der Rubrik Job und Karriere platziert wurde, wird ein Bild der beruflichen Pflege gezeichnet, das durch gute Bezahlung bei gleichzeitiger Geringschätzung im Gesundheitssystem, Technikmangel und fehlenden Karrieremöglichkeiten gekennzeichnet ist. Als Experte zur Einschätzung der Situation in der Pflege wird ein Gesundheitsökonom, Günter Neubauer, herangezogen. Eine pflegewissenschaftliche Expertise, also eine Einschätzung aus Sicht der unmittelbar assoziierten Wissenschaft der Pflege, fehlt im Beitrag gänzlich. Dies ist dem Argumentationsgang durchgehend anzumerken. In rein ökonomischer Perspektive wird Pflege – alle fachlichen Diskussionen der letzten 20 Jahre ignorierend – als Hilfsberuf markiert, das problematisierte schlechte Image des Pflegeberufes wird damit gleichzeitig reproduziert und verfestigt.

Aufklärung wäre vor dem Hintergrund derart einäugiger Betrachtungen in der Tat von Nöten – und das gleich auf mehreren Ebenen:
Zunächst wären die im Beitrag vertretenen Aussagen zur Gehaltsstruktur in der beruflichen Pflege einzuordnen: Der Bruttomonatsverdienst aller Arbeitnehmer/innen in Deutschland betrug 2016 durchschnittlich 3.703 € im Monat (https://de.statista.com/themen/293/durchschnittseinkommen/), während eine Gesundheits- und Krankenpflegerin/Krankenschwester mit 2 Jahren Berufserfahrung nach Ende der Ausbildung im Bereich der kommunalen Arbeitgeber laut TVÖD 2.732 € verdient (ver.di 2017). Zudem muss darauf hingewiesen werden, dass viele Pflegekräfte nicht unter die Tarifbindung des öffentlichen Dienstes fallen (vor allem im Bereich der ambulanten und stationären Pflege sowie vielfach bei Tätigkeit in den neuen Bundesländern), so dass hier z.T. erhebliche Gehaltsunterschiede zu verzeichnen sind.

Weiterhin wäre die Einsicht, dass die historische Entwicklung eines Berufsstandes bei der Weiterentwicklung der Pflegeberufe zu berücksichtigen ist, mit dem weiterführenden Hinweis zu versehen, dass berufliche Pflege in Deutschland kaum durch „Pfleger“, wie es die Autorin durchgehend bezeichnet, erbracht wird, sondern dass über 80% der Pflegefachpersonen weiblich sind und die im Beitrag skizzierten Problemlagen durchaus typische Entwicklungen für viele sogenannte „Frauenberufe“ abbilden.

Eine differenzierte (und schließlich auch die internationalen Entwicklungen berücksichtigende) Betrachtung des Pflegeberufes gestattet darüber hinaus die Einsicht, dass das Aufgabenfeld der Pflege in einer Gesellschaft des langen Lebens hoch komplex ist und Pflegende über umfangreiche – und keineswegs immer medizinnahe – Kompetenzen verfügen müssen. Diese Einsicht hat international dazu geführt, dass die Pflegeausbildung weitgehend im hochschulischen Sektor angesiedelt ist, für die Regelversorgung auf Bachelorebene, für die komplexe und hochkomplexe pflegerische Versorgung auch auf Master- und Promotionsniveau. Damit wird der Notwendigkeit Rechnung getragen, dass moderne Pflege die eigenverantwortliche Identifikation von Pflegebedarfen, die fachlich begründete Auswahl geeigneter Interventionen sowie auch die fachlich fundierte Evaluation der Pflegeergebnisse umfasst.

Im neuen Pflegeberufsgesetz sind diese Aufgaben als Vorbehaltsaufgaben definiert. Je nach Einsatzbereich (Krankenhaus, Altenheim, ambulante Pflege etc.) kommt ein mehr oder weniger umfangreicher medizinnaher Aufgabenbereich hinzu, für den die Pflegefachpersonen ebenfalls qualifiziert sind und den sie kompetent übernehmen. Mittlerweile ist hinlänglich belegt, dass ein höherer Anteil von akademisch qualifizierten Pflegefachpersonen das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko von Krankenhauspatienten senkt. Jenseits der Frage von Mortalität und Morbidität verfügen die akademisch qualifizierten Pflegefachpersonen über ein erhöhtes Potential zur Problemlösung sowie zur argumentativen Vertretung der pflegefachlichen Belange im interdisziplinären Team, alles Aspekt die zur Verbesserung der Patientenversorgung beitragen. Der Anteil der in der Patientenversorgung tätigen akademisch qualifizierten Pflegefachpersonen in Deutschland liegt derzeit bei unter einem Prozent, der Wissenschaftsrat empfiehlt eine Quote von 10-20%! Es besteht also dringender Bedarf, die Akademisierung im Sinne der Patientinnen und Patienten sowie auch im Sinne der Attraktivitätssteigerung der Pflegeberufe zu forcieren – diesen Prozess in Frage zu stellen konterkariert alle im Beitrag geforderten Bemühungen um eine Weiterentwicklung und Aufwertung der Pflegeberufe. Auch das Argument, dass Menschen, die einen Pflegeberuf ausüben möchten, der Zugang durch Akademisierung verwehrt wird, ist nur wenig tragfähig: In nahezu sämtlichen europäischen Nachbarstaaten hat es vor dem Hintergrund der frühzeitig erkannten erhöhten Kompetenzanforderungen in den vergangenen zwanzig Jahren eine Anhebung der Zugangsvoraussetzungen zur Pflegeausbildung auf das höhere Bildungsniveau (zwölf Jahre Allgemeinbildung) gegeben – dies natürlich bei Sicherstellung von Durchlässigkeitsregelungen für verschiedene Qualifikationswege in der Pflege.

Die Autorin zieht es jedoch vor, die in Deutschland begonnene Akademisierung der Pflege als „Allheilmittel“ abzutun und vor einer vollständigen Akademisierung zu warnen – Begründung: es könnte sich – Gott bewahre – eine Ausdifferenzierung des Berufsbildes entwickeln, die die spezifischen Herausforderungen einer komplexen Pflege mit spezifischer und wissenschaftlich begründeter Expertise beantwortet. Erstaunlich, dass eine Kritik an dieser, z.B. in der hochgelobten Medizin seit langem etablierten Praxis der Ausdifferenzierung nun plötzlich im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der beruflichen Pflege platziert wird! Die im Beitrag vorgestellten Möglichkeiten für ‚Karrierechancen’ in der Pflege orientieren sich bedauerlicherweise an Althergebrachtem, unbeachtet bleiben Beispiele für moderne Karrierewege: auch in Deutschland finden sich erste Einrichtungen, die neue Wege gehen und Karrierewege innerhalb patientennaher Versorgungs- und Pflegekonzepte entwickeln und implementieren. Ein Beispiel dafür sind Konzepte im Sinne einer ‚erweiterten Pflegepraxis‘, in denen akademisch qualifizierte Pflegefachpersonen auf Studien basierende passgenaue Lösungsansätze für komplexe Pflege- und Versorgungssituationen wie die Versorgung von Menschen mit Demenz auf einer orthopädischen Station oder die Betreuung beatmungspflichtiger Patienten in der Häuslichkeit entwickeln, teilweise selber umsetzen, ihre Kolleginnen und Kollegen entsprechend fortbilden und die Neuerungen in die Routineabläufe implementieren.

Einzig die Technisierung der Pflege scheint der Autorin als Option zur Weiterentwicklung des Berufsstandes verfolgenswert. Mit mehr Technikeinsatz in der Pflege sollen dabei gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden. Zum einen sei der Einsatz von Technik dazu geeignet einen Beruf aufzuwerten, zum anderen sei es durch den Einsatz von Technik möglich, dass Pflegende noch mehr Patientinnen und Patienten als heute versorgen können. Zwar mag arbeitssoziologisch betrachtet die Analyse im Vergleich von techniknahen und technikfernen Berufen hinsichtlich der gesellschaftlichen Bewertung eines Berufes stimmen. Doch hier wird einerseits die zwischenmenschliche Dimension als Kernelement von Pflege – sowohl im Selbstverständnis des pflegerischen Berufsbildes als auch als Erwartung der Menschen mit Bedarf an pflegerischer Unterstützung – verkannt und andererseits übersehen, dass die gesellschaftliche Anerkennung des Berufes bereits heute sehr hoch ist.

Das Problem ist nicht die mangelnde Technik, das Problem der Pflege sind ihre Rahmen- und Arbeitsbedingungen. Das Problem ist die mangelnde Zeit für eine pflegerische Patientenversorgung, die dem state oft the art entspricht. 80% der Pflegenden berichten in einer Befragung in deutschen Krankenhäusern, dass es nicht ausreichend Pflegende für eine gute Pflege gäbe. Im ökonomischen Spiel der Kräfte sind in den vergangenen Jahren immer mehr Pflegestellen abgebaut worden. Der Einsatz von mehr Technik, damit die verbleibenden Pflegepersonen noch mehr Patientinnen und Patienten versorgen können, führt in die falsche Richtung. Das Verhältnis von Pflegefachpersonen zu Patienten in Deutschland liegt im europäischen Durchschnitt heute schon weit hinten, es ist z.B. schlechter als in Griechenland, Polen, Irland, Belgien und England, von den skandinavischen Ländern oder der Schweiz ganz zu schweigen. Der Fachkräftemangel in der Pflege ist nicht zuletzt das Ergebnis gesundheitspolitischer Entscheidungen und er bedarf gesundheitspolitischer Lösungen. Die Fixierung eines Pflegeschlüssels zur Festlegung des Verhältnisses von Pflegenden und zu Pflegenden gehört dazu.

Prof. Dr. Renate Stemmer
Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP)
Denomination: Pflegewissenschaft/Pflegemanagement, Kath. Hochschule Mainz, Saarstr. 3, 55122 Mainz, E-Mail: renate.stemmer@kh-mz.de

JProf. Dr. Erika Sirsch
Stellv. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP)
Lehrstuhl für Akutpflege, Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar, Pallottistraße 3, 56179 Vallendar, E-Mail: esirsch@pthv.de

Prof. Dr. Manfred Hülsken-Giesler
Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP)
Lehrstuhl für gemeindenahe Pflege, Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar, Pallottistraße 3, 56179 Vallendar, E-Mail: mhuelsken-giesler@pthv.de

Heinrich Recken
Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP)
HFH-Hamburger Fern-Hochschule Essen, Auf der Union 10, 45141 Essen, E-Mail: Hein-rich.Recken@hamburger-fh.de

Prof. Dr. Karin Wolf-Ostermann
Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP)
Lehrstuhl für Pflegewissenschaftliche Versorgungsforschung, Universität Bremen, Grazer Straße 4, 28359 Bremen, E-Mail: wolf-ostermann@uni-bremen.de

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